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Kundgebung zum Internationalen Frauentag in Bagdad - Aktivistinnen droht Lebensgefahr

Jürgen Hahnel aus Bagdad

Der Tübinger Friedensaktivist Jürgen Hahnel befindet sich derzeit für einige Wochen in Bagdad. Von dort hat er einen Bericht zum heutigen internationalen Frauentag sowie einen weiteren Bericht mit verschiedenen anderen Eindrücken geschickt.


Heute, am 8. März 2004, dem internationalen Frauentag, gab es auch eine Kundgebung neben dem Sheraton- und Palestine-Hotel in Bagdad zur Situation der Frauen hier.

Es waren ca. 300 Frauen, Männer und Kinder anwesend, VertreterInnen der “Worker-Communist Party of Iraq” und einiger Frauenorganisationen. In Anbetracht der sich stark verschlechternden Situation der Frauen hier sicher eine sehr geringe Zahl von TeilnehmerInnen. Ein Grund ist sicher auch die Angst vor Anschlägen bei öffentlichen Veranstaltungen.

Ein Beispiel von Bedrohungen gegenüber Frauen ist die Rednerin der “Organisation of Women’s Freedom in Iraq”, Yanar Mohammed, die Ende Januar nach einer Rede, die auch über Medien verbreitet wurde, von einer radikal-islamischen Gruppe mit dem Namen “Army of Sahaba” (Jaysh Al-Sahaba) mit dem Tode bedroht worden ist. Es wurde verlangt, dass sie ihre Aktivitäten für Frauenrechte stoppt, die als “geistesverwirrte Idee von Frauenfreiheit” bezeichnet wurde. Als sie sich hilfesuchend an ein US-Militär-Hauptquartier wandte, wurde ihr gesagt, dass sie sich um viel wichtigere Dinge kümmern müssten.

Obwohl auch die Frauensituation unter der vorherigen Regierung und Gesellschaft kritisiert wird, ist dennoch eine Verschärfung unter der jetzigen Besatzung festzustellen.

Es wird scharf verurteilt, dass die Besatzungsmächte überwiegend islamistischen (konservativen) Vertretern die Macht im “Government Council” (22 Männer + 3 Frauen) übergeben haben. Nun fühlen sich viele Frauen - und sie sind es tatsächlich - vom “politischen Islam” bedroht. Aktivistinnen droht Lebensgefahr.

Sie machen die US-Besatzer dafür verantwortlich, diesen “dunklen Mächten” Auftrieb gegeben zu haben und den Irak in “ein großes Gefängnis für Frauen” zu verwandeln. Sie verlangen (zumindest) “Schutz vor diesen kriminellen Gruppen”.

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Einblicke in das Leben der IrakerInnen ? angespanntes Abwarten bezüglich Besatzungsmächten

Bericht von Jürgen Hahnel - Ende Februar 2004


In der hiesigen vielschichtigen und zum Teil chaotischen Situation ist es nicht leicht zu entscheiden, womit als erstes anfangen mit einer Beschreibung des Zustandes hier.

In Gesprächen erfährt mensch einiges, in welcher schwierigen und ungewissen Phase die Menschen sich hier befinden:
- der Zusammenbruch des alten Systems (Freude und Enttäuschung/Verfolgung),
- die Besatzung durch ausländische Truppen (und zunehmende Frustration darüber),
- die unsichere Lage durch Kriminalität und Anschläge,
- verschiedene religiöse / ethnische / politische / soziale Spannungen,
- die Hoffnung auf einen “Neuanfang”
- eine für die meisten schlechtere individuelle und allgemeine Ausgangslage als vor dem Krieg)
-….

Ein Ausdruck davon und der Problemlösungsversuche sind z. B. die ca. 250 Menschenrechts-Organisationen und Interessenvertretungsgruppen und ca. 140 Parteien, die hier gegründet wurden.

Viele decken ähnliche bzw. gleiche Bereiche ab, wie z. B. Frauenrechte, Arbeitslosigkeit, Gefangenen-Problematik, etc. Aber eine Vernetzung und engere Zusammenarbeit ist oft durch eine Art Konkurrenzdenken und nicht zuletzt durch fehlende technische Voraussetzungen (Telefone, Internet) erschwert.

Die Spannungen unter verschiedenen ethnischen/religiösen/politischen oder Interessen-Gruppen (KurdInnen, AraberInnen, SchiitInnen, Baathparteimitglieder, …) nehmen zu. Viele bemühen sich aber auch um einen versöhnlichen Zusammenhalt und fördern einen gemeinsamen Neuanfang.

Viele, die sich von der Herrschaft Saddam Husseins befreit fühlen und eine gewisse Dankbarkeit dafür verspüren, sind mittlerweile enttäuscht über gemachte Versprechungen (der US/GB-Regierungen) und beklagen die ausbleibenden Verbesserungen.

Die alltäglichen Erfahrungen (Strommangel, willkürliche Verhaftungen, schlechte medizinische, Versorgung, Verbote bzw. Ausschluss von kritischen Medien, fehlende Gelder in allen öffentlichen Bereichen, enorme Arbeitslosigkeit,…) bringen viele dazu, von einer Besatzung zu reden.

Den von den Besatzungsländern ausgewählten “ÜbergangsvertreterInnen” (22 Männer und 3 Frauen) wird meist kein Vertrauen geschenkt und selbst innerhalb der Bevölkerung wächst das gegenseitige Misstrauen.

Wenige werden reich (oder haben ihr Auskommen) durch die neue “Freiheit” und legale oder illegale Geschäftsfelder (Übersetzer für Geschäftsleute/Besatzungsverwaltung, Sicherheitsdienste, Polizei, Satellitenfernsehen, Stromerzeuger, Mobiltelefon-Monopolhandel, Frauen/Mädchen- und Waffenhandel, Etiketten-/Produktfälschungen, Organhandel,…) während viele andere weitere Verschlechterungen (ca. 60 % Arbeitslose) zu erwarten haben.

Es gibt mittlerweile ca. 800 000 Inlandsflüchtlinge (ca. 400 000 in Bagdad), die in ca. 800 (ca. 400 in Bagdad) selbstimprovisierten Unterkünften (ausgebombte, geplünderte, ausgebrannte Häuser oder Regierungs-/Verwaltungsgebäude) “leben”.

Frauen befürchten bzw. erleben eine Verschlechterung ihrer bisherigen relativ fortschrittlichen Position. Das zeigt sich auch in den Bestrebungen der “Übergangsregierung”, “Islamisches Recht” in den Verfassungsentwurf aufzunehmen. Das hätte z.B. Auswirkungen auf das Heiratsalter, Scheidungs- und Erbrecht,… .

Den Druck von “Islamischen Sekten” spüren auch z. B. (christliche) Alkoholverkäufer, die Morddrohungen erhielten, damit sie ihre Läden für mindestens 10 Tage schließen, während den 40-tägigen Gedenkfeierlichkeiten für einen “heiligen Märtyrer” (auch fortschrittliche Moslems werden vereinzelt bedroht, weil sie nicht an den - wieder erlaubten ? zum Teil blutigen Selbstgeiselungsritualen teilnehmen).

Neben diesen irak-internen Bedrohungen sind eine Vielzahl von Menschenrechts-Verletzungen durch die vor allem US-Besatzungstruppen festzustellen. Internationale und irakische Organisationen können nur einen kleinen Teil der Vorkommnisse (bei Razzien, Beschuss von Anwesen, Unfälle mit Militärfahrzeugen, bisher ca. 18 000 Verhaftete, Kontrollstellen,…) dokumentieren. Dennoch lässt sich daraus ableiten, dass es nicht nur Einzelfälle sind.

Die Internationale OccupationWatch-Organsiation. ( www.occupationwatch.org ) z.B. und das Christian Peacemaker Team (USA/Canada) ( www.cpt.org ), lokale Medien ( www.iraq-today.com ) und Menschenrechtsorganisationen versuchen diese Rechtsverletzungen öffentlich zu machen:
- Tausende werden nach US-Militärrecht als sog. “Sicherheitsgefangene” festgehalten, ohne konkrete Anschuldigung und für eine unbestimmte Zeit;
- Familien/AnwältInnen erfahren oft monatelang nicht wo ihre Angehörigen festgehalten werden, dürfen sie nicht besuchen und wissen manchmal nicht ob sie noch am Leben sind;
- auch Jugendliche werden festgehalten unter entwürdigenden Haftbedingungen;
- kaum Waschmöglichkeiten, manchmal Essen- oder Wasserentzug, rechtswidrige Verhörmethoden, Schlafentzug, Überbelegung, Misshandlungen;
- Entwendung von Schmuck und Bargeld bei Straßenkontrollen oder Razzien;
- bei Unfällen oder Razzien werden oft nicht die für Entschädigung oder Rückgabe
notwendigen Belege ausgehändigt;
- Missachtung religiöser Sitten (Koran wird auf den Boden geworfen) bei Razzien in Moscheen/Privathäusern/Kirchen und Zerstörungen von Einrichtung/Türen/Fenster
- Geldbeschlagnahme (privat oder in Kirchen /Moscheen) oft ohne Rückgabe trotz Belegen;
- allgemein wurde festgestellt, dass die US-Entschädigungsstellen eine Farce sind und AntragstellerInnen sich oft tage-/wochenlang vergeblich um Rückgabe bzw. Entschädigung bemühen;
- keine arabisch-sprachigen Formulare/Hinweise; lange Warte- und kaum Öffnungszeiten: Original-Unterlagen “gehen verloren”;
- Missachtung rechtsstaatlicher Untersuchungs-Normen;
- Ausschluss jeglicher Entschädigung von Verletzungen, Tod, oder Beschädigungen von Unbeteiligten bei sogenannten “Kampfhandlungen”
-….

Und welche Erfahrungen machen wir als “Internationale Friedens-/humanitäre Gruppen” (ca.20 Personen), die in Kontakt zur Bevölkerung (was US-Soldaten selbst in der Freizeit verboten ist) mitten in der Stadt wohnen:
- unser Internet-Café-Betreiber wurde bedroht, weil er Ausländer bedient;
- wir hatten eine versuchte Entführung und zwei bewaffnete Raubüberfälle;
- sehr viele freundliche Begegnungen und offene Gespräche (in Englisch)
- US-Militärhubschraubertiefflüge und ab und zu Militärpatroullien in gepanzerten Fahrzeugen (mit angespannten Soldaten hinter schussbereiten Gewehren);
- bei direktem Kontakt bei Kontrollpunkten von bewachten US-Stützpunkten erfährt mensch von den meisten Soldaten, dass sie unfreiwillig im Irak sind;
- Geschäfte voller Waren (wobei viele für das Notwendigste betteln müssen) und viel bunte neue Werbung;
-2/3 Std. öffentliche Stromversorgung, dann - wer es sich leisten kann - 2/3 Std. Aggregat-Strom, dann wieder Netzstrom usw.;
- immer wieder Gewehrschüsse von Irakern (meist als Test);
- alle paar Tage Explosionen von wahrscheinlich Anschlägen;
-….

Das bisher Geschriebene ist nur ein Ausschnitt des Lebens der IrakerInnen. Es sieht vieles danach aus, dass die Menschen sich in einer angespannten Phase des Abwartens befinden, vor allem in Bezug zu den Besatzungsmächten (mit zunehmendem Widerstandswillen).

Daran wird sicher auch das kostenlose 14-tägige Propagandablatt “Baghdad Now” der Besatzungsverwaltung nichts ändern, die versucht, mit Bildern und Berichten von Schuhe-/Kleider- oder Schulbedarf-Spendenübergaben von US-Soldaten gute Stimmung zu verbreiten. Diese zum Teil privat gesammelten Geschenke sind sicher lobenswert, stehen aber in keiner Relation zu vielen Verstößen der Truppen und weiterer Misstände. Wenn in diesem Blatt die Arbeit (= Verwaltung des Notstands) der von den Besatzern mit eingerichteten irakischen Ministerien als “Neuanfang nach einem verbrecherischen Regime” bezeichnet wird, werden damit wohl wissentlich die fatalen Auswirkungen von 12 Jahren Sanktionen und zwei Uranmunitions-Kriegen (www.umrc.net) verschwiegen und die engen militärisch-wirtschaftlichen Beziehungen zu Saddam Hussein vor allem in den 80er Jahren.

Veröffentlicht am

08. März 2004

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