Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Wie weiter nach den Terroranschlägen und dem Krieg?

Zur aktuellen Problematik von Terror und Krieg aus pazifistischer Sicht

Von Michael Schmid, aus: Rundbrief des Lebenshaus vom Dez. 2001

Ein terroristischer Akt kann durch nichts entschuldigt oder gerechtfertigt werden. Das gilt unabhängig davon, ob er von religiösen Fanatikern, von Milizen, von Widerstandsbewegungen durchgeführt wird - oder ob eine anerkannte Regierung ihn als Vergeltungskrieg begeht. Der Krieg gegen Afghanistan kann New York und Washington nicht ungeschehen machen. Er ist nur ein zusätzlicher terroristischer Akt gegen Menschen auf dieser Welt. Jeder getöte Mensch kann nicht mit der entsetzlichen Zahl der Toten in den USA verrechnet werden, sondern muss diesen Toten hinzugezählt werden.

Dass der Massenmord durch die Terroranschläge in den USA tiefe Betroffenheit hervorgerufen hat, ist nur zu verständlich. Doch ganz schnell folgten dem ersten Schock martialische Töne von Vergeltung mit massiven Militärschlägen. Bush versprach einen “Kreuzzug gegen das Böse”. Die Bundesregierung beschwor die “uneingeschränkte Solidarität Deutschlands”, die ausdrücklich auch alle militärischen Aktionen umfaßt. “Uneingeschränkte Solidarität” - dies ist die Sprache des bedingungslosen Gehorsams und der Unterordnung. Eine Sprache die kein Nachdenken und keinen Disput mehr zulässt. Gerüffelt werden deshalb alle, die sich nicht einfach die eigenständige Benutzung ihrer Hirne verbieten lassen wollen. Eigenständiges Nachdenken soll gleich im Keim erstickt werden. Kriegführung ist seinem Wesen nach totalitär.

Seit dem 7. Oktober führen die USA und ihre Verbündeten offen Krieg gegen Afghanistan. Dabei bleiben die Kriegsziele unklar. Ursprünglich wurde als Kriegsziel angegeben, die Hintermänner der Terroranschläge zu ergreifen. Dies wurde nicht erreicht. Dann ging es um den Sturz des Taliban-Regimes. Irak und andere Länder könnten auch drankommen. Offensichtlich geht es um andere Kriegsziele, als zunächst gesagt wurde, um geostrategische Interessen, um wirtschaftliche Einflußzonen. Die USA haben erklärt, dass es sich um einen langjährigen Feldzug handeln könne, der sich keineswegs auf Afghanistan beschränkt. Die deutsche Bundesregierung, welche die Angriffe “ohne Vorbehalte” unterstützt, hat den USA den Einsatz der Bundeswehr so lange angedient, bis diese schließlich nicht mehr anders konnten, als “anzufordern”. Nun hat auch der Deutsche Bundestag zugestimmt - die Formen, wie die Zustimmung erpresst wurden, werden noch lange Spuren hinterlassen.

Natürlich gibt es auch Tote und Verletzte in diesem Krieg. Im Namen der “anhaltenden Freiheit” werden nun viele Menschen in Afghanistan umgebracht. Natürlich werden auch unschuldige Zivilisten, werden Kinder, Frauen und Männer verbrannt oder zerfetzt. Es werden Streubomben eingesetzt. Die EU-Parlamentspräsidentin Fontaine spricht zurecht davon, dass diese Bomben eine “barbarische Sache” sind. Nicht sofort explodierte Bomben detonieren bei der geringsten Berührung, d.h. sie setzten Hunderte von Stahlsplittern frei, die Menschen im Umkreis von über hundert Meter verletzen oder töten können. Im Boden verborgene Clusterbomben können auch noch nach Jahrzehnten Menschen zerfetzen.

Und dann gab es bereits unendlich viele Opfer auch ohne direkte Bombeneinwirkung, weil der wochenlange Militäraufmarsch und die Kriegserklärung ein weiteres Flüchtlingsdrama in Afghanistan ausgelöst hat. Die Kriegführung tut ihr übriges. Der hereinbrechende Winter wird eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmasses hervorrufen, wenn nicht doch noch eine schnelle internationale Hilfe für die Menschen in Afghanistan durchgeführt wird, die aber unter Kriegsbedingungen nicht möglich ist.

Es gibt in diesen Tagen in Afghanistan viele Arten zu sterben. Drei Millionen Menschen brauchen laut Terre des Hommes sofort Nahrungsmittelhilfe. Die Menschen sitzen in der Falle. Sie flüchten vor den Bomben, dem Hunger, der Zwangsrekrutierung, den Plünderungen, den Racheakten und müssen befürchten, zwischen Kriegsparteien zu geraten.

Wenn jetzt im übrigen als positives Verdienst des Krieges der anvisierte Sturz des grausamen Taliban-Regimes ins Spiel gebracht wird: Die Taliban - aufgepäppelt von den USA wie Bin Laden auch - üben ihre Schreckensherrschaft seit vielen Jahren aus, ohne dass dies jemand groß interessiert hätte. Fast niemand, der diesem Schreckensregime entkommen und in Deutschland um Asyl gebeten hatte, hatte ein solches erhalten. Die Anerkennungsquote betrug im Jahr 2000 läppische 0,9 Prozent. Der große “Rest” - “Asylbetrüger”?! Erst durch ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts im August 2000, das einige Flüchtlinge mit Unterstützung von Flüchtlingsorganisationen angerufen hatten, hat sich die Rechtsprechung geändert. Die Verfolgung durch die Taliban wurde nun als “quasistaatlich” anerkannt. Sprunghaft gestiegene Anerkennungszahlen belegen seither das Ausmaß individueller Gefährdung: von Januar bis September 2001 wurden 61,7 % der afghanischen Flüchtlinge vom Bundesamt anerkannt. Durchschnittlich beantragen rund 5.000 afghanische Flüchtlinge pro Jahr in Deutschland Asyl. Verglichen mit dem millionenfachen Flüchtlingsdrama in Afghanistan und den Nachbarstaaten sind die Flüchtlingszahlen in Deutschland verschwindend gering.

Den Terroristen in die Falle Gegangen

Den Gefühlen von Hass und Vergeltung nachzugeben und Krieg zu führen - genau damit sind die USA und ihre Verbündeten in die Falle der Bin La-dens getappt. Die bisher kaum bekannte Organisation Al Quaida wurde zu einem ernst genommenen Gegenspieler der größten Militärmacht der Welt gekürt, ihr Führer Bin Laden zur mythischen Figur erhoben. Auf einen Schlag hatten die Klerikal-Faschisten erreicht, was anderen kaum gelingt: als gleichwertiger Kriegsgegner der USA anerkannt zu werden. Und wenn die stärkste Militärmacht der Welt mit ihrem Feldzug namens “Krieg gegen den Terrorismus” eines der ärmsten Länder angreift, dann wird wohl ein Sieg innerhalb weniger Wochen herausspringen müssen. Eine solche Erwartungshaltung, die jetzt nicht eingehalten werden kann, wurde geschürt. Es wird noch lange militärisch draufgeschlagen werden. Auf Afghanistan und auch auf andere Länder. Doch mit diesen Mitteln ist dem Dilemma nicht zu entkommen: sollte Bin Laden ermordet werden, wird er als Märtyrer in die Geschichte eingehen. Zudem wird es dann 10 oder 100 neue Bin La-dens geben. Wird er vor Gericht gestellt, dann kann er dieses als Plattform für Propaganda nutzen. Wenn er entkommt, wird er ein Robin Hood werden. Zudem ist die Gefahr weiterer Eskalation mit noch nicht absehbaren Folgen riesengroß.

Einseitiger Ausstieg aus der Gewaltspirale

Es gibt einen US-Amerikaner, 1968 wegen seines vehementen gewaltfreien Engagements gegen Krieg, Armut und Rassismus ermordet, der uns auch heute noch viel zu sagen hat: Martin Luther King. Er hatte die Einsicht, “dass, wenn wir den Frieden in der Welt haben sollen, Menschen und Völker gewaltlos dazu stehen müssen, dass Zwecke und Mittel übereinzustimmen haben.” Er war davon überzeugt, man könne “gute Zwecke nicht durch böse Mittel erreichen, weil die Mittel den Samen und der Zweck den Baum darstellen.” Wer Gewalt anwendet, darf sich nicht wundern, wenn Gewalt auf ihn zurückfällt.

King hätte wahrscheinlich zum konsequenten, einseitigen und bedingungslosen Ausstieg aus dem erwarteten Reaktionsschema mit Gewalt geraten. Das wäre eine Reaktion gewesen, die nicht ins Drehbuch der Terroristen gepasst hätte. Und sie hätte zu einer Unterbrechung der Gewaltspirale geführt. Denn die Unterbrechung des Gewaltkreislaufs wird am schnellsten funktionieren, wenn erklärt wird, dass man sofort unabhängig vom Handeln der anderen Seite bei seiner gewaltfreien Strategie bleiben wird. Dieser konsequente einseitige Ausstieg aus dem Gewaltkreislauf war die Strategie eines Gandhi im indischen Befreiungskampf gegen den Kolonialismus mit der Haltung: Den Engländern ist bekannt, dass wir eine gewaltfreie Strategie verfolgen und bei ihr bleiben werden.

Aber wäre dies den US-Amerikanern nach den Terrorschlägen zuzumuten gewesen? Sind ihre Gefühle von Hass und Vergeltung nicht nur allzu gut zu verstehen? Gewiß. Doch von ihrem ermordeten Landsmann Martin Luther King können sie und können wir lernen, dass Hass und Gewalt niemals mit Gewalt zu überwinden ist. King hat versucht, dem Hass und aufkommenden Rachegefühlen zu widerstehen.

Er hat die Feindesliebe eines Jesus von Nazareth ernstgenommen und auch auf jene Menschen angewandt, die sein eigenes Haus bombardierten und ihm sonst nach dem Leben trachteten. Ihm war wichtig, lieber selber zu leiden als anderen Leiden zuzufügen. Lieber die andere Backe hinhalten als zurückzuschlagen. Lieber das eigene Blut fließen zu lassen als das anderer. Das ist gewiß keine populäre Haltung. In unseren westlichen Fun-Gesellschaften ohnehin nicht. Aber eine solche Haltung war für King Grundlage und Kennzeichen von Gewaltfreiheit.

Gleichzeitig - das zu betonen ist wohl bis heute immer wieder wichtig -, ging es ihm keinesfalls um passives Erleiden von Unrecht. Im Gegenteil: King und der Bürgerrechtsbewegung ging es um aktiven Widerstand ohne Gewalt und nicht um Vermeidensstrategie. Um gewaltfreie Konfliktbearbeitung und nicht um ängstliches Abwarten und Hinnehmen von Unrecht. Die Alternative, den Terror tatenlos über sich ergehen zu lassen oder mit Militär zurückschlagen, stimmt nicht.

Dem Hass den Nährboden entziehen

Es hätte auch nicht dem Drehbuch der Terroristen entsprochen, wenn statt der Frage, wer für die Terroranschläge in den USA verantwortlich ist, vor allem die Frage in den Mittelpunkt gerückt worden wäre, warum der Anschlag geschah. Warum gibt es einen so unglaublichen Hass auf die USA und an-dere westliche Staaten, dass auch durchaus intelligente Menschen bereit sind, ihr eigenes Leben dafür einzusetzen, um diese Länder zu bekämpfen?

Bei einem selbstkritischen Nachdenken über Ursachen dieses Hasses kommt der Zusammenhang zwischen Terrorismus und der Politik westlicher Länder, insbesondere der US-Regierung mit ihrer egoistischen und unterdrückerischen Politik gegen die arabischen, lateinamerikanischen und südostasiatischen Länder und den Anschlägen in den Blick. In vielen Ländern der Welt werden insbesondere die USA nicht ohne Grund mit ökonomischer und militärischer Unterdrückung identifiziert.

Außer dem Hass auf die US-amerikanische Militär- und Interventionspolitik gibt es auch eine Herausforderung an die islamische Kultur und Werte durch die weltliche und materialistische Kultur des Westens. Deren Bewältigung ist so schwierig, dass sie teilweise Hass schürt. Solange über CNN und andere Medien weltweite Propaganda für den US-amerikanischen Lebensstil im Sinne von “Wir Amerikaner sind die Größten und die Reichsten in dieser Welt” betrieben wird, solange werden sie gehasst werden. Anerkennung des fremden Anderen und Dialog der Religionen und Kulturen ist wichtig, um der Propaganda vom !Kampf der Kulturen” den Boden zu entziehen.

Zum fruchtbaren Nährboden für Gewalt gehört auch eine riesengroße Kluft zwischen Reich und Arm, in der immer mehr Menschen ausgeschlossen werden, nicht gebraucht werden, nicht am Wohlstand teilhaben können, der ihnen aber doch über moderne Medien vor Augen geführt wird. Deshalb kann weiterem Terrorismus am ehesten damit vorgebeugt werden, dass endlich nachhaltige gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um die strukturellen Ursachen von Armut und Elend in der Welt zu beseitigen und Gerechtigkeit herzustellen. Wir brauchen die Eine Welt!, die gemeinsam dafür kämpft, ausnahmslos allen Menschen ein würdiges, friedvolles Leben zu ermöglichen.

Die insbesondere in Kreisen der Friedensbewegung weithin erhobene Forderung, die Verantwortlichen der Terroranschläge polizeilich zu verfolgen und vor ein Gericht zu stellen, ist sicherlich richtig. Eine Polizeiaktion wäre im Gegensatz zu Militärschlägen an eng definierte Befugnisse gebunden. Und ein Verfahren vor einem weltweit anerkannten Gerichtshof, welcher nach Würdigung der Beweise zu einer Verurteilung oder eben auch zu einem Freispruch kommt, würde gewährleisten, dass nicht ganze Regionen in Brand gesteckt und vernichtet werden. Es würde auch verhindern, dass durch das Weiterdrehen an der Gewaltspirale neuer Hass gesät wird.

Interessant ist mir aber in diesem Zusammenhang der Hinweis des Friedensforschers Theodor Ebert, dass M.L. King als Führer der Bürgerrechtsbewegung sich zwar nicht gegen polizeiliche und juristische Mittel zur Verfolgung von Straftaten ausgeprochen hat. Doch er hat ihnen auch kein großes Gewicht zukommen lassen. Für den Erfolg der Bürgerrechtsbewegung hat die Strafverfolgung keine wichtige Rolle gespielt. Viel wichtiger als die Verfolgung der Straftäter, die ohnehin nur selten gefasst und noch seltener verurteilt wurden, war die sittliche Entrüstung der AmerikanerInnen über die Straftaten und die moralische Distanzierung von diesen. Deshalb, um dies nochmals zu betonen, wäre es wichtig, den Terroristen ihren Nährboden zu entziehen. Es wird keine absolute Sicherheit vor Terroranschlägen geben können. Wenn sich aber potentielle Terroristen nicht mehr einbilden können, sie würden mit mörderischen Anschlägen den Willen Gottes verwirklichen, wenn sich weltweit Muslime und alle anderen Menschen von Terroranschlägen distanzieren und diese verurteilen, wenn gleichzeitig zielstrebig soziale Gerechtigkeit verwirklicht und auf Gewalt verzichtet wird, dann würde der Boden bereitet dafür, dass solche wahnsinnigen Attentate eines Tages keine Rolle mehr spielen werden.

Eine weitere Einsicht hat King den stark selbstbezogenen USA schon vor Jahrzehnten ins Stammbuch geschrieben: “Kein Land kann allein leben, und je länger wir es versuchen, desto mehr werden wir in dieser Welt Krieg haben!, betonte King, !wir müssen entweder lernen, als Geschwister miteinander zu leben, oder wir werden alle zusammen als Narren zugrunde gehen.”

Von einer solchen geschwisterlichen Orientierung sind die USA allerdings unendlich weit entfernt, solange sie z.B. mit ihren 4 Prozent Anteil der Weltbevölkerung jährlich alleine ein Viertel der Welterdölproduktion verbrauchen. Da sie diesen Bedarf immer weniger aus eigenen Vorräten bestreiten können, brauchen sie unbedingt den Zugang zu den Reserven in anderen Ländern. Solange sie diesen Weg weiter begehen wollen und so tun, als würde ihnen das als praktisch gottgegebene Nr. 1 der Welt auch zustehen, solange werden sie notfalls auch Krieg führen.

Veröffentlicht am

19. November 2001

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